Liebe Hörerin, lieber Hörer, möglicherweise ist es Ihnen schwergefallen, dem Schwerunkt dieses Gottesdienstes ungehindert zu folgen. Vielleicht sind Sie krank, arbeitslos, die Lasten des Alters drücken, oder Sie sind einfach traurig, über den Verlust eines Menschen, einer Chance, die sich ergeben hatte und die Sie nicht wahrnehmen konnten, oder, was es sonst für Gründe gibt, die uns den Sinn nach Feiern und Danke sagen vertreiben.
Trotz all dem halte ich es für mehr als wichtig und gut, wenn wir Menschen uns immer wieder mal ausgiebig Zeit nehmen, auf das zu sehen, wofür wir schlicht und einfach Danke sagen müssen. Essen und Trinken, Kleidung und Wohnung, Ausbildung und Beruf, Familie und Freunde - habe ich schon kurz erwähnt. Aber die Gründe, Danke zu sagen, sind sehr viel vielfältiger – auch kleine Dinge, wie ein unerwarteter Anruf oder Besuch, ein kleines Geschenk oder eine Aufmerksamkeit, wenn man etwas liegengelassen hat, oder ein freundlicher Blick, ein Lächeln, eine Umarmung. Es gibt wirklich so viel, was unser Leben angenehm und reich macht. Klein und große Dinge. Z. B., dass hier bei uns in Belo Horizonte kein Wassermangel herrscht, wie in weiten Teilen Bahias und den Bundesstaaten des Nordostens; dass es bei uns keinen Krieg gibt, wie in Syrien, dem Irak, Afghanistan und so vielen Ländern Afrikas; dass wir nicht jeden Tag mit einem Terroranschlag rechnen müssen, wie die Menschen in allen Großstädten Europas; dass wir bei aller Gewalt und Gewalttätigkeit unser Leben im Großen und Ganzen noch so gestalten können, wie wir es für gut und richtig halten; dass wir keine extreme Not leiden, dass in den allermeisten Fällen das Schlechte nicht von Dauer ist, sondern überwunden werden kann, wie die meisten Krankheiten, die uns treffen.
Waren es früher fast ausschließlich die Produkte der Erde, die wir am Erntedankfest ins Bewusstsein und vor den Altar getragen haben, so ist im Laufe der Zeit immer deutlicher geworden, dass auch andere Produkte und Dinge genannt werden müssen.
Dass dunkle Wolken verschwinden und die Sonne wieder scheint, beziehen wir heute nicht mehr nur auf Wetterphänomen, sondern auch auf Erfahrungen und Erlebnisse unseres menschlichen Universums.
Anlass für eine aus tiefster Seele kommendes Danke gibt es also viele und Sie, liebe Hörerin, lieber Hörer, können gerne und sicher noch Vieles aufzählen, was ich nicht genannt habe. Das ist gut so und macht nur nochmals deutlich, dass Dankbarkeit in unserem Leben einen größeren Raum einnehmen sollte, als das normalerweise der Fall ist. Auch in unseren regelmäßigen Gottesdienten fehlt mir oft der Dank und die Freude. Wir bringen gewöhnlich zur Sprache und vor Gott, was uns belastet und das Herz schwer macht. Doch der Dank muss genauso ausgesprochen werden. Privat und öffentlich.
Damit bin ich bei einem weiteren Thema, dass zu Erntedank angesprochen werden muss: Unser Dank ist vielfach eine sehr individuelle Sache. Er wird individuell ausgedrückt und bezieht sich in aller Regel auf das individuelle Leben der oder des Einzelnen. Ich danke für das, was ich an Gutem erhalten und erlebt habe. Familie und Freunde werden sicher mit einbezogen, aber all die vielen anderen Menschen, die mit uns diese Gesellschaft bilden und formen, kommen gewöhnlich nicht in meinem Dank vor. In der Fürbitte ja, aber im Dank nur sehr, sehr selten. Das ist nicht nur schade, sondern auch schädlich, weil das Gute in der Welt zu wenig zur Sprache kommt. Überhaupt ist unser Glaube sehr Ich bezogen. Meinen Dank, meine Freude, meine Sorgen, meine Angst, meine Not bringe ich vor Gott. Und damit verliere ich andere Menschen aus den Augen und aus dem Sinn.
Das sollte aber nach Gottes Vorstellung ganz anders sein, wie der für das Erntedankfest in Deutschland vorgesehen Bibeltext aus dem 58. Kapitel des Buches des Propheten Jesaja zum Ausdruck bringt. Ich lese die Verse 1 bis 11.
Jesaja 58, 1 bis 11:
Im ersten Augenblick ist es sicher mehr als ungewöhnlich, vom Fasten zu hören, dass doch so gar nichts mit Erntedank zu tun hat. Auf den zweiten Blick wird der Zusammenhang aber schon klar, wenn wir uns bewusst machen, dass es bei dem biblischen Text hauptsächlich um die Frage „persönliches und gesellschaftliches Leben angesichts des Glaubens an Gott geht“.
So wie ich angedeutet habe, dass unser Dank oft sehr individuell ist und die Gesellschaft kaum mit einbezieht, so redet auch der Prophet von der Diskrepanz zwischen individuellem Glauben und Handeln und der Gott gewollten und uns übertragenen Verantwortung für die ganze Gesellschaft.
Fasten war zur damaligen Zeit, etwa um 530 v. Chr., neben der persönlichen vor allem eine rituelle, gottesdienstliche Angelegenheit. Es wurden Opfergaben zum Tempel gebracht, um Gott zu zeigen, dass man verzichten kann und bereit ist, dem Leben eine andere Richtung zu geben.
Aber der biblische Text macht mit aller Schärfe und Klarheit deutlich, dass zwischen Ideal und Wirklichkeit ein riesen Unterschied war - und nicht selten heute noch ist. Was für das Fasten gilt, hat die gleiche Bedeutung für das Danken und auch für das Bitten: es darf keine rein persönliche Angelegenheit sein. Und noch wichtiger: Denken und Reden müssen mit dem Handeln übereinstimmen. Da lässt der Prophet im Namen Gottes keinen Zweifel.
Und die Aussagen des Bibeltextes lassen ebenfalls keinen Zweifel aufkommen. Wir brauchen nur noch einmal einen Blick auf die Zeilen werfen. Ich lese:
Die Aktualität dieser Worte ist frappierend. Es ist keinerlei Übertragungsarbeit notwendig. Wir verstehen, was gesagt und geschrieben ist, als wäre es für unsere heutige Zeit gesagt und geschrieben.
Lassen wir also die Worte Gottes in uns wirken. Verschließen wir uns nicht dem Aufruf zu gerechtem Handeln. Es ist meine und Ihre Entscheidung, ob wir tun, was Gott will und was gut für uns und alle Menschen ist. Ausreden gelten nicht.
Helfe uns Gott, dass wir es jeden Tag ein bisschen besser schaffen. Amen.