Achtenswert ist die Tradition in der Kirche
Vierzig Jahre sind es her. In einer Gemeinde war Kirchenfest. Der Gottesdienst, wie üblich im allgemeinen Dienst im dortigen Pfarrbezirk, war auf Deutsch vorgesehen.
Vor Beginn des Gottesdienstes kam der Vorstand zu mir. Frage: ob ich die Predigt auf Portugiesisch halten könnte? Denn Gäste des benachbarten Ortes waren da und sie verstanden kein Deutsch.
Später kamen diese Gäste zu mir und haben sich bedankt. Sie hätten nie gedacht, die Botschaft der Bibel bei uns in der Landessprache hören zu dürfen.
Wenn man das bekannte Sprichwort so umändert: „Wer das Alte in der Kirche nicht ehrt, ist des Neuen nicht wert“ – stimmt es dann auch noch? |
Gleich danach stand Herr Budag vor mir. Ein alter Mann schon, der wohl am meisten zum Bau und zur Erhaltung jener Kirche beigetragen hatte. Herr Budag war sehr ernst und sagte zu mir: „Herr Pfarrer, nie wieder werden sie in dieser Kirche auf Portugiesich predigen, denn Gottessprache ist deutsche Sprache!“
Ich war erschrocken, wie gelähmt. Die Gäste, und auch der Vorstand, hatten sich doch gefreut! Irgendwie habe ich gestottert: „Der Gott, an den ich glaube, kennt bestimmt alle Sprachen.“
„Kommt Zeit, kommt Rat“, lautet das Sprichwort.
Nach und nach wurde mir klar, dass seine Äuβerung „Gottessprache ist deutsche Sprache“ einen viel tieferen Sinn in sich barg. Er hatte damit die Allwissenheit Gottes bezüglich Sprachen gar nicht in Zweifel gestellt, noch beabsichtigt, eine Überlegenheit der deutschen Sprache über andere zu verteidigen. Es ging ihm nur um die Sprache seiner Religion, seiner Kirche, seines Glaubens...!
Klar, die Landessprache war ihm nicht fremd. Als Unternehmer muβte er seine Geschäfte ja schlieβlich auf Portugiesisch verrichten können.
Die Sprache in der Glaubensgemeinde war für ihn aber die deutsche Sprache. Wie damals üblich, brachten ihn Vater oder Mutter wohl mit dem kleinen Gebet auf Deutsch „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“ abends in die Wiege. Auf Deutsch wurden Oma und Opa, Vater und Mutter bestattet. Sein Konfirmandenunterricht und seine Konfirmation, seine Trauung und die Taufen seiner Kinder – in welcher Sprache fand das Alles damals in seiner kirchlichen Gemeinde statt, wenn nicht auf Deutsch?
Vierzig Jahre sind es her. Seitdem hat sich allerlei geändert. Gottesdienste und sonstige kirchliche Veranstaltungen in deutscher Sprache werden immer seltener. Viele neue Lieder sind erschienen. Die Liturgie ist anders. Und Mitglieder, die die deutsche Sprache unbedingt noch benötigen, sind rarer geworden. So ist es nun heute. Schlimm und verkehrt ist das nicht. DieZ e i t e n ä n d e r n sich.
Aber trotzdem vergesse ich die Reaktion des Herrn Budag nicht. Denn ich selbst bin heutzutage ziemlich unsicher und durcheinander. Wenn ich, zum Beispiel, einen Amtskollegen vertreten muss, tauchen Fragen auf: „Wie läuft da die Liturgie? Welches Liederbuch wird gebraucht? Steigt man da noch auf die Kanzel? Soll ich das Talar anziehen?...“
Natürlich, Mittelpunkt und Grund des kirchlichen Lebens ist und bleibt das Wort Gottes. In welcher Sprache und wie es verkündigt wird ist nicht die Hauptsache. Aber unsere Sinne und Gefühle kommen durcheinander, wenn man von Ort zu Ort, von Gemeinde zu Gemeinde ständig auf Verschiedenheiten gerät. Und das ist nicht einfach eine Nebensache! Bald fragt man sich: „Ist das meine Kirche?“, „Bin ich unversehens in eine fremde Kirche gelandet?“, „Was für einen Gottesdienst werde ich hier erleben?“, „Gibt es keine Liturgie mehr?“
Jahrzehntelang war unsere Kirche ziemlich homogen. Überall fast dieselbe Liturgie, die inhaltsvollen Texte der alten Lieder und ihre Melodien. Man fühlte sich heimisch auch in der Fremde. Und diese gute und gesunde Tradition hat bestimmt keinem geschadet, und hat die Zahl der Mitglieder unserer Kirche und die Teilnehmerzahl der Gottesdienste ganz gewiβ nicht verringert.
Wenn man „Tradition“ nicht mag, so kann man es mit „Eigenschaften“, „Merkmale“... umtauschen. Sie sind Werte unseres Seins, auch unseres kirchlichen Seins. Sind da wichtige Bausteine, aber auch Basis, denn wir existieren nicht in der Luft, sondern in konkreter Situation.
So sage ich auch hierzu : Der Gott, an den ich glaube, kennt, neben allen Sprachen, bestimmt auch alle Liturgien, alle Lieder, alle Gottesdienstformen... und freut sich über den guten Willen und Fleiβ seiner Kinder, ihn durch verschiedene und neue Weisen zu loben und zu ehren. Aber nicht, wenn Typen wie Herr Budag in seiner Kirche zu kurz kommen! Bestimmt gilt auch hier, was Jesus (Lukas 6,36) sagt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Barmherzig zu sein bedeutet nicht einfach Mitleid mit ihnen zu haben, sondern vielmehr Respekt denen gegenüber, die schon vor uns, zusammen mit oder nach ihrer Vorfahren, unsere Kirche weiter erbaut und erhalten haben. Viele von ihnen sind noch unter uns, und möchten ganz bestimmt auch heute noch sich mit uns in unserer Kirche heimisch fühlen.
P. em. Hugo Westphal