Es muss feste Bräuche geben...
Glück, Friede, Hoffnung, Glaube und Liebe (und warum nicht das Heilige!?) sind von uns Menschen nicht manipulierbar. Sie lassen sich nicht an Uhrzeiten, Räume und Personen binden. Und dennoch wollen sie in ihnen konkrete Gestalt gewinnen. Darum schaffen wir besondere Räume und Zeiten, in denen wir uns in besonderer Weise für sie öffnen und bereithalten, damit sie zu uns kommen, uns durchdringen und erfüllen können. Natürlich können Glück, Friede, Hoffnung, Glaube, Liebe und das Heilige uns auch buchstäblich überrumpeln, so wie die Liebe auf den ersten Blick oder auch die Bekehrung. Aber selbst in diesem Fall ist es gut, wenn wir danach das Unsere zur täglichen Gestaltung tun. Genau darum geht es in unserem Thema von der Notwendigkeit fester Bräuche. In diesem Sinne lade ich Sie ein, mit mir durch meinen normalen Tagesablauf zu wandern und an einigen Stationen meditierend zu verweilen, um etwas vom Geheimnis fester Bräuche zu erspähen.
Er weckt mich alle Morgen,er weckt mir selbst das Ohr. Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor, dass ich mit seinem Worte begrüβ das neue Licht. Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht. (Jochen Klepper)
In dieser dankbaren Gewissheit, in der Morgenstille noch im Bett liegend, rezitiere ich, schweigend, zwei Strophen des Liedes „Gott des Himmels“ von Heinrich Albert, die ich schon im Jahre 1964 auswendig lernen musste/durfte:
Gott, ich danke dir von Herzen, dass du mich (uns) in dieser Nacht vor Gefahr, Angst, Not und Schmerzen hast behütet und bewacht; dass des bösen Feindes List mein (unser) nicht mächtig worden ist. Führe mich (uns), o Herr, und leite meinen (unsern) Gang nach deinem Wort. Sei und bleibe du auch heute mein (unser) Beschützer und mein (unser) Hort. Nirgends als bei dir allein kann ich (können wir) recht bewahret sein. (EG 445.2,4)
‚Es muss feste Bräuche geben...‘, sagte der Fuchs zum kleinen Prinzen. ‚Denn wenn ich weiβ, dass du um 15 Uhr kommst, fange ich schon um 14 Uhr an, glücklich zu sein‘. Aus ‚Der kleine Prinz‘ von Antoine de Saint-Exupéry |
Selbst wenn ich, was selten vorkommt, zu nichts weiter an morgendlicher Besinnung komme, so ist in diesen beiden Strophen für mich sehr Wesentliches enthalten: Dank für die Bewahrung in der Nacht und vertrauensvolle Hingabe an Gott für den neuen Tag. Dieses Gebet ist wie eine „eiserne Ration“ für den Tag.
Seit geraumer Zeit schlieβe ich auch die körperliche Seite mit in die geistliche Besinnung ein. Denn auch die Muskeln wollen aufwachen. In diesem Sinne habe ich eine kleine Sequenz von Muskeldehnungsübungen (“alongamentos”) entwickelt, die ich, teilweise noch im Bett liegend und danach vor dem Bett stehend, für etwa acht Minuten praktiziere. Dabei versuche ich, meine Ehefrau Eloisa nicht zu wecken, was mir meistens auch gelingt. Wenn ich danach meine Morgentoilette im Badezimmer verrichtet habe, bin ich an Leib, Seele und Geist aufge wacht.
Dann begebe ich mich in die Küche, um den Morgenkaffeee vorzubereiten. Auf dem Wege dorthin kommt mir unsere Labradorhündin Nina mit ihrem Teppich entgegen, den ich als ihr “Geschenk” an mich annehme. Sie legt sich dann auf die Fuβmatte mit dem Blick auf mich gerichtet und wartet geduldig. Bei Radionachrichten stelle ich die Kaffeemaschine an und präpariere, mit Kreativität, für Eloisa und für mich je ein Schüsselchen mit mehreren Obstsorten. Diese stelle ich dann mit dem angefertigten Kaffee auf den Tisch. Erst jetzt bekommt Nina ihr Morgenfutter und danach machen wir beide unseren Morgenspaziergang. Nach Hause zurückgekehrt, begrüβt Eloisa mich mit dem “Guten-Morgen-Küsschen” und Nina mit einer Streichelliebkosung. Am von Eloisa gedeckten Kaffeetisch sitzend, lese ich die Tageslosungen und spreche unser Morgengebet in Form von Dank für Gottes Wort und für die Bewahrung in der Nacht, Fürbitte für Familie, Verwandte und Freunde (besonders Kranke und Trauernde). Nach dem Kaffeetrinken liest Eloisa den Bibeltext des Tages, und ich lese die Auslegung mit beigefügtem Gebet. Danach tauschen wir uns über die anstehenden Aufgaben und Verpflichtungen des Tages aus.
Das ist die normale Form unseres morgendlichen Rituals. Dieser feste Brauch verleiht uns Geborgenheit, Gemeinsamkeit und Mitteilen und bereitet uns auf die verschiedenen Herausforderungen des Tages gut vor. Wir haben die Freiheit, von dieser Normalform abzuweichen und uns auf ein Minimum zu beschränken, wenn es die Umstände empfehlen oder erfordern.
Nach einem erfüllten Tag stellen wir uns auf das abendliche Ritual ein:
Vor dem gemeinsamen Abendessen präpariere ich für Eloisa und für mich eine kleine Schüssel mit buntem Salat. Dann mache ich mit unserer Hündin Nina den Abendspaziergang. Wenn wir zurückkommen, nehmen Eloisa und ich unser von ihr zu Ende vorbereitetes Abendessen ein. Wenn wir dann gegen 22:30 Uhr ermüdet im Bett liegen, reichen wir uns die Hand, damit Eloisa unser Abendgebet sprechen kann. Es beinhaltet: Dank für die Bewahrung Gottes im Tagesablauf; Dank für erfahrene Liebeserweise; Bitte um Vergebung von Fehltritten und Unterlassungen; Fürbitte für Familie, Verwandte, Freunde (besonders Kranke, Trauernde und Notleidende); vertrauensvolle Hingabe an Gottes Schutz für die Nacht und Bitte um, so ER will, ein frohes Erwachen am morgigen Tag. Das Gute-Nacht-Küsschen darf nicht fehlen – nicht zuletzt wegen der Notwendigkeit fester Bräuche!
Pfarrer Günter Wehrmann