Warum Luther für Lateinamerika wichtig ist - Eine systematisch-kontextuelle Perspektive

07/07/2011

Warum Luther für Lateinamerika wichtig ist

Eine systematisch-kontextuelle Perspektive

Vítor Westhelle

Meine Hausaufgabe

So lautete meine Hausaufgabe für heute. Nur um zwei Fragen geht es. Die erste: Warum ist Luther für Lateinamerika von Bedeutung, genauer genommen, für Brasilien ? Die zweite: Warum sollte ich an dieser Lehrstelle interessiert sein, da ich ein Systematiker, kein Historiker bin? Man bat mich, Thesen dazu aufzustellen.

Ich meine, diesen beiden Fragen mit einer einfachen Behauptung über meine Berufung beantworten zu können: ich bin ein Lateinamerikaner, Brasilianer und Systematiker, der einen großen Teil seiner akademischen Tätigkeit damit verbracht hat, über Luther und das Luthertum zu forschen, zu schreiben und zu veröffentlichen. Diese Auskunft scheint mir auszureichen, ich werde aber versuchen, die Antwort zu entfalten.

1. Die systematische Theologie, oder wie man auch immer diese Disziplin nennen mag, die seit über drei Jahrhunderten als solche anerkannt ist, hat Auslegungen über Luther hervorgebracht, die für spezifische Zeiten und Orte von großer Relevanz gewesen sind, und dies ist ja die Aufgabe der Systematischen Theologie.

Die zweite Frage schien mir kurioser zu sein. Ich werde sie nicht persönlich angehen, denn es geht hier nicht um eine apologia pro vita mea - mein Lebenslauf ist offen und zugänglich, dort können alle meine Veröffentlichungen eingesehen werden; siehe meine Internetseite in www.lstc.edu bzw. www.vitorw.com. Es geht also nicht um meine Person, sondern um den von der Frage scheinbar hervorgerufenen Eindruck, dass Lutherstudien nicht in die Systematische Theologie gehören. (Hier lasse ich dahingestellt, ob das Beiwort systematische eine bessere Bezeichnung für die Disziplin liefert als die Adjektive dogmatische, konstruktive usw.) Wonach eigentlich gefragt ist, ist wohl, ob die Systematische Theologie das für die Untersuchung Luthers geeignete Feld ist. In den neunziger Jahren gehörte ich zum Komitee für die Organisation des Internationalen Kongresses für Lutherforschung. Ein Prinzip dieses Kongresses war, in etwa die gleiche Anzahl von Referenten aus den Bereichen Geschichte und Systematik zu haben. Zumindest damals war es leichter, Systematiker zu finden und zu gewinnen als Historiker, die über Luthers Theologie forschten. Spontan kommen mir Namen in den Sinn, die zur Systematischen Theologie gehören und für die Lutherforschung von entscheidender Bedeutung gewesen sind, aus den letzten fünfzig Jahren, seit den 60er Jahren. Jeder, der etwas über Lutherforschung weiß, würde diese Namen sofort wiedererkennen. Ich fange im Norden an. Tuomo Mannermaa aus Finnland, Gustaf Wingren aus Schweden, Regin Prenter - Dänemark, Gerhard Ebeling - Schweiz und Deutschland, Oswald Bayer aus Deutschland, Gerhard Forde aus den USA. Dabei nenne ich nur einige, die mir jetzt einfallen und bereits im Ruhestand oder gestorben sind. Samt und sonders Systematiker! Sicherlich könnte ich auch viele Historiker nennen, aber ich meine, mein Argument bereits hinreichend begründet zu haben.

Als Lateinamerikaner bin ich in der Vergangenheit und auch jetzt auf ähnliche Weise an Luther interessiert wie Mannermaa, der Luther für seine finnische Umwelt auf originelle und kontroverse Art und Weise interpretiert hat, oder wie Forde für den nordamerikanischen Kontext. Diese beiden Beispiele, wie man Luther außerhalb seiner theologischen Wiege liest (allerdings auf der nordatlantischen Achse), weisen aufregende und verblüffende Ergebnisse und Entdeckungen auf, die von theologischen Linsen der mitteleuropäischen Moderne nicht entziffert worden waren. Hier gehe ich dann dazu über, die erste Frage zu behandeln, die in der Tat sehr komplex ist und sicherlich mehr verlangt als die fünf Jahre Unterstützung für einen Lehrstuhl für Lutherforschung, wenn dies überhaupt möglich wäre. Ich versuche es wenigstens einmal, um zu zeigen, dass die Beihilfe der bayerischen Kirche für diesen Lehrstuhl eine weise Entscheidung darstellt und die Anerkennung derer verdient, denen die Zukunft der Lutherstudien und auch des Luthertums weltweit am Herzen liegt. Dies möchte ich nun auch begründen.

Warum ist Luther wichtig?

2. Das kolonialistische Vorhaben Europas hat die Theologie für seine Zwecke vereinnahmt und einige seiner besten Theologen haben sich dafür hergegeben. Dabei wurde der marginale Charakter der sächsischen Theologie des 16. Jahrhunderts ausgeblendet.

Warum hat man dann in Lateinamerika Lutherstudien getrieben? Vor fast zwei Jahrhunderten schrieb Schleiermacher in seiner Glaubenslehre: “... denn neues Ketzerisches entsteht nicht mehr, indem die Kirche sich aus sich selbst ergänzt, und die Einwirkung fremder Glaubensweisen selbst an den Grenzen und in dem Missionsgebiet der Kirche, was die Ausbildung der Lehre betrifft, für nichts gerechnet werden muβ, wenngleich in der Frömmigkeit der Neubekehrten lange Zeit viels sein mag, was, aus ihren früheren frommen Zuständen eingeschlichen, wenn es zu klare Bewuβtsein käme und als Lehre ausgeschprochen würde, für ketzerisch würde erkannt warden.

Diese Stelle scheint mir sehr interessant und zeigt eine Haltung, die, wenn sie auch nicht konfessionell lutherisch ist, so wurde sie doch von den Lutheranern zur Zeit des triumphalistischen Kolonialismus geteilt. Die Kirche lebt von ihren eigenen dogmatischen Ressourcen und hat nichts dazu zu lernen, wenn auch abergläubische Überbleibsel noch für lange Zeit vorhalten. Der Passus ist eine ausgezeichnete Zusammenfassung des Manifests des missionarischen Kolonialismus. Die Dritte Welt, das Missionsfeld, zählte nicht, es sei denn als Missionsgegenstand, als Territorium für koloniale Expansion.

Ein Jahrhundert später hatte sich die Situation nicht viel geändert, obwohl das Aufkommen der Pfingstler im Norden Brasiliens zu Anfang des 20. Jahrhunderts festgestellt werden kann; sie würden dann einmal zu einer tiefgreifenden Umwälzung in der traditionellen kirchlichen Demografie Lateinamerikas führen und weltweite Präsenz gewinnen. Damals hatte dies jedoch niemand ernstgenommen. Das Christentum hatte noch immer seinen festen unangetasteten Sitz auf der nordatlantischen Achse, und Christen südlich des Äquators waren zahlenmäßig in der Minderheit, unbedeutend hinsichtlich des Zugangs zu kirchlicher und theologischer Macht. Ein halbes Jahrhundert später, als der Lutherische Weltbund in Lund (1947) gegründet wurde, nahm aus der Dritten Welt praktisch niemand daran teil, außer ein paar wenigen Asiaten. Schätzungsweise machten damals die Lutheraner in der Dritten Welt nicht einmal zehn Prozent des Luthertums weltweit aus. Den Angaben des Lutherischen Weltbundes zufolge sind sie heute bereits über 40% ; und die Zahl wächst. Die Lutheraner stehen heute etwas hinter anderen Bekenntnissen wie Anglikanern, Katholiken, Baptisten, Presbyterianern und Methodisten zurück, bei denen diese Umschichtung bereits massiv stattgefunden hat. Über 60% der Christen leben bereits südlich des Äquators. Bei den Lutheranern geschieht dasselbe, nur etwas langsamer. Es würde mich nicht überraschen, wenn zum Reformationsjubiläum in sechs Jahren die meisten Lutheraner bereits außerhalb der nordatlantischen Achse zu finden sind. Seit zwei Jahren befindet sich die zweitgrößte lutherische Kirche weltweit, nach der schwedischen, in Äthiopien, nicht mehr in den USA (möglicherweise wird bald die drittgrößte in Tansania oder Madagaskar sein).

Warum habe ich zur Einführung in das Thema Schleiermacher zitiert? Weil nicht nur die Antworten, die Dogmen, die Systeme wichtig sind, sondern auch die Fragen, die aus bestimmten Kontexten und Situationen hervorgehen. Für die Reformation ist die Kirche nicht nur die ecclesia docens, die lehrende Kirche, sondern immer auch die ecclesia discens, die Kirche, die immer wieder in neuem Kontext, an neuen Orten dazulernt.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war sich Luther darüber bewusst, dass er Theologie am Rande eines politischen und kirchlichen Imperiums predigte und schrieb. Das Bewusstsein dieser Marginalität hat seine Theologie geprägt und seine Empörung genährt. Bereits in seinen ersten Veröffentlichungen stellte er Fragen, die ihm selbstverständlich schienen: Wozu Ablass? Warum nicht Abendmahl in beiderlei Gestalt? Wozu die kirchliche Zentralisierung? Warum ein Lehramt, wenn wir die Schrift haben? Wieso darf das Volk nicht seine Führer wählen? Wieso der Wucher? Warum nicht ein barmherziger Gott? Und so weiter. Solche Fragen werden heute als selbstverständlich angesehen, aber zu seiner Zeit haben wenige gemerkt, dass der Kaiser nackt zwar. Vielleicht kennen Sie folgende Geschichte: Um 1990 herum, als in der geopolitischen Lage eine Umwälzung stattfand - was man in Deutschland die Wende nennt - war an der Mauer der Universität Bogota, Kolumbien, ein Graffiti zu lesen: Quando teniamoscasi todas lasrespuestas, se nos cambiaranlas preguntas.”Als wir fast alle Antworten hatten, änderten sich die Fragen. In der Tat sind es die neuen, ungewohnten Fragen, die die Antworten auf alte Fragen ins Wanken bringen, die nicht mehr an der Tagesordnung sind.

3. Insofern das Luthertum anderen Bekenntnissen in Richtung Süden folgt, kann Luther, der kontextuelle systematische Theologe par excellence, den Weg weisen.

Neue Kontexte werfen neue Fragen auf, und die Bereitschaft, neue, kreative Antworten zu suchen. Zwar bin ich mir darüber nicht ganz sicher, ich habe aber den Verdacht, dass das vorhin genannte Graffiti sich auf die Antworten der kanonischen Texte marxistischer Tradition bezog. Darauf kommt es aber nicht an. Alle Wahrheitsregimes haben ihre Kanons. Das gilt auch für die Lutheraner: sie haben Luthers Texte, Bekenntnisschriften, normative Auslegungen. Aber bis neue Fragen von den Kuratoren des Kanons als legitim anerkannt sind, werden neue Antworten für ketzerisch gehalten, weil neue Fragen üblicherweise von den stillschweigend hingenommenen Wahrheitsregimes ausgeschlossen zu werden. Dies ist also die Aufgabe: diese kanonischen Texte aus der Perspektive anderer nicht-maßgeblicher Kontexte zu befragen. Die anregendsten Fragen kommen vielleicht nicht nur dadurch auf, dass die zahlenmäßige Mehrheit der Lutheraner in einer Umgebung lebt, die von der europäischen beziehungsweise nordamerikanischen akademischen Welt oft nicht verstanden wird, und die von kontextuellen Vorgaben geprägte Frömmigkeit nur als Überbleibsel früheren Glaubens angesehen wird. (Habe nicht verstanden) aaa

Wozu sollen wir uns in der Dritten Welt mit Luther beschäftigen? Das ist genau die Aufgabe der Systematik: aufzuspüren, wie Bibel und Tradition einer gegebenen Situation begegnen. Sicherlich geht es nicht darum, antiquarisch oder aktenkundig Herkunft und Sorte festzustellen. Dies kann man sowieso tun, so weit man Zugang zu den Quellen hat. In der Dritten Welt wird das immer noch gemacht, und wir sollten es auch weiter tun. Aber sich darauf beschränken ist was Derrida mal d’archive genannt hat, nämlich die Vergangenheit zwecks Rechtfertigung der Gegenwart verwenden. Dies ist eine Geringschätzung der Gegenwart und ihres Ortes (Gegenwart hat immer einen Ort, oder sie ist nicht gegenwärtig, Gegebenes, Geschenktes). Dies tun wir, wenn wir Kategorien benutzen, die für andere Kontexte zentral sind; mimetisch wiederholen wir sie und abstrahieren dabei von der Gegenwart an einem gegebenen Orte, von unserer Gegenwart. So geht es beim Reden über Rechtfertigung, über die zwei Reiche, über Gesetz und Evangelium usw. Und was einst befreiend wirkte, verstummt nun, die örtliche Sprachweise schweigt, sie wird beiseite geschafft. Der Grund, sich mit Luther zu beschäftigen, scheint mir ein anderer zu sein; und das ist die erste Aufgabe. Es geht darum, Taktiken und Strategien der Vergangenheit kennen zu lernen, um Auseinandersetzungen der Gegenwart zu beleuchten.aaa

Darf ich erklären. Zum Beispiel, muss derjenige, der es wagte, die Botschaft des Wortes in die eigene Sprache zu übersetzen, selbst in die jeweils eigene Sprache übersetzt werden. Ein Text aus dem Jahre 1525, Eine Unterrichtung, wie sich die Christen in Mose schicken sollen, wird mitten in seiner Auseinandersetzung mit einigen Wiedertäufern geschrieben, die, wie einige Fundamentalisten heute, die Schrift zitierten: Das ist das Wort Gottes. Hier ist Luther so kontextuell wie selten. Er sagt: Sicherlich ist dies das Wort Gottes, ihr seid aber nicht das Volk, an den es gerichtet ist . Es muss das Wort Gottes gehört werden, das an ein bestimmtes Volk gerichtet ist. Hier beginnt Luther tatsächlich bereits damit, andere Sprachen zu sprechen: Spanisch, Mandarin, Finnisch, Suaheli, Englisch, Malaiisch usw., nur muss es fließender werden. Bischof Pedro Casaldáliga sagte es treffend: Das universale Wort spricht nur Dialekt. Darum geht es also auf der einen Seite: in den Kontexten, den verschiedenen sozialen und kirchlichen Situationen die Praxis anzuwenden, welche kulturell die lutherische Reformation selbst bestimmt hat, und dies muss auf eine verständliche Art und Weise getan werden.

Mir scheint, dies meinte Anders Nygren in seiner Eröffnungsrede bei der ersten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes: Nicht zurück in die Vergangenheit, sondern vorwärts zu Luther.

4. Wenn Luther außerhalb seines Stammlandes untersucht wird, dann geht es nicht um konfessionalistische Repristination, sondern um seine Umgestaltung.

Weiterhin geht es darum, die Aktenkrankheit loszuwerden, nach welcher wir nur dann legitim handeln, wenn wir wie die Deutschen, Schweden oder Nordamerikaner handeln. Luther muss umgestaltet werden. Dies geschieht in der Geschichte der [so genannten] Verklärung, Matthäus 17. Jesus ist nie Elias noch Moses gewesen und hat sogar von ihnen Abstand genommen, sondern sie haben Jesu Gestalt angenommen, ohne dass dieser seine Identität aufgab. Luther muss die Gestalt der heutigen Luther annehmen, ohne dass Dieses sie von ihren eigenen Aufgaben und ihrem eigenen Ort abwende, ohne sich von der Aktenkrankheit anstecken zu lassen. Der Verklärung in Matthäus geht das Bekenntnis des Petrus voraus: Du bist der Messias. In der nächsten Szene redet Jesus über sein Schicksal, Petrus schaltet sich ein und Jesus antwortet Satan, geh weg! Petrus verstand Jesus anhand der ihm zuhandenen Lehre oder Kanons (Moses, Elias und die Propheten): Jesus sollte sein wie Moses oder wie Elias. Petrus lieferte das korrekte Bekenntnis, wusste aber nicht den Kontext zu lesen. Das ist die theologische Definition des Dämonischen: korrekte Dogmatik bei inadäquater Kontextualisierung. Die Verklärung ist die Geschichte darüber, wie sich die Vergangenheit einer Metamorphose unterzieht (metamorphethe ist das mit “Verklärung” wiedergegebene Wort ) in die gegenwärtigen Kontexte hinein,
und nicht umgekehrt. Luther hat auch Paulus und Augustin einer Metamorphose unterzogen, ist aber nicht mit ihnen eins geworden; er hat ihren Mantel angezogen, aber über seine eigene Haut.

5. Wahre Nachfolge liegt nicht im Buchstaben, sondern im Geiste. Der Buchstabe erhält, doch das Evangelium erneuert. Luthers Werke müssen alle gelesen und aufmerksam geprüft werden; dann muss man sie schließen und das Evangelium öffnen.

Eine dritte programmatische Aufgabe besteht dann. Man muss den Mut zur Erneuerung haben, ohne das Alte zu zerstören. Jesu Gleichnis berührt unsere Aufgabe: “Darum gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt.”(Mt 13:52) Die Akten bleiben erhalten, und es wird unter uns immer einen Jünger des Himmelreichs geben, der Wertvolles aus ihnen hervorholt. Der Internationale Kongress für Lutherforschung nächsten Frühling in Helsinki ist vielleicht der stärkste Nachweis dieser von uns erhaltenen Kunst. Wir müssen aber auch wagemutig sein – ist es überhaupt notwendig, dieses Lutherkennern nahe zu bringen? Bei allen Mängeln, die er selber zugab, an Mut hat's im nicht gefehlt. Wir sind solange keine Lutheraner, solange wir nicht Fragen und Antworten wagen, die uns über die herrschenden Kanons führen.
Das ist das Programmatische: Kontextualisierung, Umgestaltung und Erneuerung.

Zielsetzungen

6. Lateinamerikas Cone Sur stellt sich gegenwärtig als fähigster Interpret zwischen heutigem und zukünftigem Luthertum dar.

Für die Durchführung dieser Aufgaben gilt es einige Zielsetzungen zu erreichen. Dazu gehe ich nicht allgemein auf Luther und das Luthertum ein, sondern versuche das zu behandeln, was mit der Schaffung eines Lehrstuhls für Lutherforschung auf Faculdades EST in São Leopoldo beabsichtigt ist. In Lateinamerikas Cone Sur besteht eine Situation, die, mit Ausnahme der ethnischen Enklaven in Südafrika, allen anderen lutherischen Kirchen der Dritten Welt eigentümlich ist. Im Cone Sur sind die Kirchen durch die deutsche Einwanderung entstanden. Sie halten noch an vielen Traditionen fest, an Sprache und Dialekten der Einwanderer, wenn sich auch dieses seit den sechziger Jahren durch eine fortschreitende Inkulturation in die südamerikanische bzw. brasilianische Realität geändert hat. Auf lange Sicht wird die Zukunft des weltweiten Luthertums eher von Afrika und Asien abhängen, doch gegenwärtig hat Südamerika in dieser allmählichen Verlagerung eine führende Stellung.aaa

Auch ist die theologische Ausbildung dort diejenige, die im Vergleich mit den weiteren in der Dritten Welt am meisten mit der Deutschen vergleichbar ist. In den heutigen Tagen ist diese Region die Vermittlerin zwischen europäischen und amerikanischen theologischen Werten und den der Dritten Welt. Vermittler ist, wer sich zwischen zwei Werten (bzw. Preisen, inter-pres) befindet und in der Lage ist, – ursprünglich auf antiken Marktplätzen – einen Tausch zu bewerkstelligen, wo der Unterschied der Sprache und Dialekte eine direkte Verhandlung unmöglich machte. Aber in dem Augenblick, in dem die an den Verhandlungen beteiligten Seiten durch die Vermittlung eines Interpreten auf einen gemeinsamen Preis kommen, verlässt Letzterer die Szene. In diesem Sinne hat São Leopoldo eine beträchtliche symbolische Bedeutung. Diese Stadt gilt als Wiege der deutschen Einwanderung. Dort ist die erste Gruppe deutscher Einwanderer 1824 gelandet. (EST war die erste theologische Schule, welche lutherische Theologie ins Gespräch mit der Befreiungstheologie gebracht hat. Bereits zu Beginn der 70er Jahre wurde die erste Übersetzung von Gustavo Gutierrez' Teologia da Libertação veröffentlicht. Und zwar ins Holländische, durch den damaligen Dozenten bei EST Klaus van der Grijp.)

Dies bringt mich auf die erste Zielsetzung für diesen Lehrstuhl: einen Raum für die Interpretation bzw. Vermittlung zwischen dem Süden und dem Norden zu schaffen, wo sich im lutherischen Kontext noch die theologische Führung abspielt. Mit Sicherheit wird eine kontinuierliche Kommunikation zwischen theologischen Zentren im Süden notwendig werden, wo Untersuchungen über Luther bereits im Gange sind (wie im Lutherischen Seminar in Hongkong, auf der theologischen Fakultät Gurukul in Indien, im Lutherischen Seminar Makumira in Tansania, Natal-Universität in Pietermaritzburg, Südafrika, ISEDET in Argentinien usw.). Zweitens muss der Nord-Süd-Dialog fortgesetzt werden, vor allem mit denjenigen akademischen Institutionen, mit denen Kontakte bereits bestehen. Es hat bereits in der Vergangenheit Zusammenarbeit mit verschiedenen deutschen Universitäten und Hochschulen gegeben; gleiches gilt für solche aus Dänemark, Norwegen und den USA. Hier geht es um Koordination, Kooperation und den Ausbau von Kontakten. Eine solche Arbeit wurde bereits mit guten Ergebnissen ab 1995 von der Abteilung für Theologie und Studien des Lutherischen Weltbundes begonnen und umgesetzt; wegen mangelnder Mittel ist sie dann von einem Forschungszentrum zu einer Schnittstelle für gemeinsame Initiativen geworden. Kontakte zur Abteilung für Theologie und Studien des Lutherischen Weltbundes werden sicherlich diese Aufgabe erleichtern, wenn nicht sogar anführen.

7. Die Lutherforschung steht zur Kontextualisierung, zur Umgestaltung und Innovation wie die Landwirtschaft zur Ernte, das Kokon zum Schmetterling. Die Frage ist: was nun, wenn die Ernte misslingt, oder der Schmetterling stirbt?

Das zweite Ziel ist gerade, Schwerpunkte für die Forschung zu entwickeln, welche solche Themen der lutherischen Theologie, besonders Luthers selbst, bevorzugen, die für Lateinamerika und Brasilien insbesondere von Bedeutung sind. Dies, scheint mir, sollte die Hauptaufgabe des Lehrstuhlinhabers sein. Aufgrund meiner Kenntnis der Theologie Luthers und der lateinamerikanischen Realität gehe ich davon aus, dass zu Beginn drei Themenbereiche besonders behandelt werden müssen.

Thematische Schwerpunkte

8. Rechtfertigung und Eschatologie sind in den Werken Luthers eng aufeinander bezogen; sehr wenig ist bis jetzt unternommen worden, um die räumlichen und sozialen Dimensionen dieser Lehren zu verstehen.

Rechtfertigung, Eschatologie und Raum. Der erste Themenschwerpunkt scheint auf den ersten Blick ziemlich selbstverständlich. Es handelt sich um das zentrale Thema der Reformation, der Rechtfertigung aus Gnaden durch den Glauben. Sie sollte jedoch nicht als ein weiterer Locus der Dogmatik sondern in radikal eschatologischer Perspektive behandelt werden. (Dies wurde zum Beispiel von Paul Althaus bereits unternommen, jedoch in einer historistischen und individualistischen Perspektive.) In diesem Sinne ist Rechtfertigung nicht eine Lehre, sondern sie beschreibt eine Grenzerfahrung, die zugleich Tod und Geschenk ist. Luther pflegte bei der Rede über die Rechtfertigung diese paradoxe und extreme Sprache zu verwenden. Er tat dies auf sehr realistische Weise. Rechtfertigung tötet, um Leben zu schenken, und schenkt Leben, indem sie tötet. Wie soll man dies jedoch verstehen, ohne zu spiritualisieren? Luther lebte und atmete selbst in einem apokalyptischen Klima, das ja immer eine existenzielle Grenzsituation darstellt. Wohlstandsgesellschaften tun sich damit heute schwer. Die Rechtfertigung wird spiritualisiert, ihre Konkretheit genommen, und Eschatologie wird in eine unbestimmte Zukunft oder in ein mystisches nunceternum projiziert. Das Wort eschaton im Neuen Testament führt drei unterschiedliche Bedeutungen, die in den Originaltexten nebeneinander vorkommen. Es kann sich auf eine räumliche Grenze beziehen, wie die Grenze eines Gebiets, oder auf die mythologische Vorstellung des Ortes, an dem die Welt nach dem Ozean zu Ende geht; es kann sich auch auf das Zeitliche und seine Grenzen beziehen; und es kann auch das Letzte Glied in einer Stufenskala bezeichnen. Der zeitliche Sinn ist jedoch der einzige, der in der westlichen Moderne Verwendung gefunden hat.

Für Lateinamerika jedoch (sowie für andere Teile der Dritten Welt, wo die Bevölkerungsmassen ein solches Apokalypse erleiden) bekommt dieses Thema eine besondere und sehr reale Bedeutung. Fragen über Leben und Tod, Geschenk und Übergang kennzeichnen jeden Schritt im alltäglichen Leben der landlosen Kleinbauern, Straßenkinder, Slumbewohner, Eingeborenenvölker, für die das Eschaton den Zaun der Farm nebenan bedeutet, die nächste Ecke, oder auch die Mordwaffe; da ist der Tod ganz real, und die Feier des Lebens ansteckend. Über Rechtfertigung unter dieser Perspektive zu reflektieren bedeutet, die Bedeutung heutiger eschatologischer Erfahrungen zur Kenntnis zu nehmen. Es geht um ansteckende Krankheiten (Viren und Bakterien überschreiten die Grenzen ( tà éschata) der menschlichen Haut, so wie es auch Medikamente tun, welche Gesundheit, sotería, Heil bringen), es geht auch um die Migration zwischen geopolitischen Räumen, wo ebenfalls Grenzen auf Leben und Tod überschritten werden. Rechtfertigung muss für das tägliche Leben erklärt werden. Hier sind Rechtfertigung und Verurteilung, Befreiung und Unterwerfung zentrale eschatologische Erfahrungen. Über Rechtfertigung als Geschenk und Tod nachzudenken wird also besonders in den Kontexten subalternen Lebens besonders relevant, welches die lateinamerikanische Realität und besonders brasilianische kennzeichnet.

9. Die Zwei-Reiche-Lehre kennzeichnet den jungen Luther und wurde von anderen Reformatoren übernommen und verbreitet (z. B.Bucer und Calvin), sie behandelt jedoch nicht Luthers spätere Unterscheidung zwischen Wirtschaft (oeconomia) und Politik (politia). Darin liegt sein besonderer Beitrag für solche Gesellschaften, wo, wie in der Dritten Welt, diese Bereiche des wirklichen Lebens klar unterschieden werden können, im Gegensatz zur westlichen Moderne, wo sich diese soweit vermengen, dass sie kaum zu unterscheiden sind.

Gerechtigkeit, Politik und Wirtschaft. Der zweite thematische Schwerpunkt behandelt das andere Grundthema der Reformation, das seit einem Jahrhundert die Zwei-Reiche-Lehre genannt wird. In Europa und in den USA wird dieses Problem als eines der Beziehung zwischen Gesetz und Evangelium, sogar zwischen Glaube und Politik oder auch zwischen Kirche und Staat dargestellt. Das besondere an diesen Gedanken Luthers ist in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts seine subtile und genaue Unterscheidung zwischen Politik und Wirtschaft; damit hat er eine Thematik vorweggenommen, die erst Jahrhunderte später Hegel und Marx bzw. im 20. Jahrhundert Arendt und Spivak behandelt haben.

Dessen Bedeutung für Lateinamerika wurde bereits unterstrichen durch die Unterscheidung Paulo Freires zwischen Bewusstmachung [conscientização] und Produktion, und in jüngster Zeit durch die Typologie des Anthropologen Roberto DaMatta mit den Metaphern von Haus und Straße. Der Ursprung dieser Frage kann auf Aristoteles mit seiner Unterscheidung von zwei der drei menschlichen Fähigkeiten zurückgeführt werden, praxis und poiesis ( wobei theoria die dritte ist), welche Luthers Begriffen von Politik und Wirtschaft zugrundeliegt. In der griechischen Patristik (z. B. bei Basilius von Cesarea) wird diese Unterscheidung noch beibehalten; im Mittelalter verschwindet sie und wird dann von Luther mit der genauen Unterscheidung zwischen oeconomia und politia wieder aufgenommen. Für das lateinamerikanische theologische Anliegen ist diese Unterscheidung von höchster Bedeutung.

Andere Reformatoren sind Luther in der Unterscheidung der Reiche gefolgt, dem geistlichen und dem weltlichen, aber kein anderer ist so weit gegangen wie Luther, die Kirche als Ereignis zwischen Politik und Wirtschaft (in ihren klassischen Sinne) zu beschreiben, in ihrer Nachbarschaft liegend, von beiden etwas übernehmend, ohne sich keiner von beiden zu unterwerfen. Wenn sie sich der Politik übergibt, wird die Kirche dämonisch; passt sie sich der Wirtschaft an, wird sie zum Idol / wird sie götzendienerisch.

10. Allein das Kreuz ist unsere Theologie: dies ist das präziseste und klarste Manifest der Lutherischen Reformation (seit 1517-18), und es bleibt es weiterhin für jede Person, für die das Kreuz das tägliche Leben symbolisiert. Die Interpretation dieses Manifests wird unterstützt durch den größten ökumenischen Konsensus, der jemals erreicht worden ist: das Ökumenische Konzil zu Chalcedon (451).

Christologie, Kreuz und Hybridität . Als dritte Achse, die es erlaubt, die beiden ersten zu verbinden, steht die Christologie Luthers, seine Interpretation des Ökumenischen Konzils zu Chalcedon (451) und dessen enge Beziehung zu der Theologie des Kreuzes. Für Lateinamerika bedarf dieses Thema keiner weiteren Rechtfertigung über diejenige hinaus, die bereits von verschiedenen Theologen und Theologinnen verschiedenster Bekenntnisse geliefert worden ist, die sich unter dieser Fragestellung mit Luther beschäftigen. Doch die Folgen dieser Theologie gehen noch weiter und sind viel relevanter und radikaler, als man bis jetzt erkannt hat. Was hat Christus mit Leiden zu tun? Ist er ein Beispiel für Durchhaltevermögen? Ist er eine Lehre über den stellvertretenden Sinn des Schmerzes? Vergebung der Sünden? Solidarität mit dem leidenden Volk? In Wahrheit ist Luther viel radikaler. Bereits in seinem Bekenntnis 1528 entwickelte der Reformator was er den dritten Modus der Gegenwart Christi nannte (über den historischen Jesus und die Realpräsenz im Sakrament hinaus). Wenige Lutheraner scheinen davon zu wissen, obwohl dieser Text über eine Seite lang in der Solida Declaratio (VII) der Formula Concordiae zitiert ist. Dort heißt es zusammenfassend, dass die hypostatische Union der chalcedonischen Formel notwendigerweise zu der Behauptung führt, das Christus dem Fleische nach (sonst sei unser Glaube falsch) alles transzendiert, und zwar so, dass er jedem Ding näher ist als jedes Ding sich selbst, das heißt, auch im Tode bzw. vor allem im Tode.aaa

So hat meine obige Frage über die Beziehung Christi zum Leiden eine einfache Antwort: essenzielle Identifikation. Es ist Christus selbst, der im Fleische des Leidenden leidet. Es ist Christus selbst, der im Grabe der verstorbenen Person beerdigt ist. Und für Luther war dies keine Metapher. Er nahm es buchstäblich. Die zweite Folge ist, dass, wenn Gott dem Fleische nach bei allen Dingen in Christus ist, so wird auch die gesamte Natur zum Leiden Christi. Dies hat Implikationen für den Umgang mit der Umwelt, und zwar nicht nur moralische und ethische, sondern Folgen, die zutiefst mit Offenbarung zu tun haben, vor allem mit der revelatio sub contrariis, der Offenbarung im Umgekehrten. Die dritte Folge daraus ist, dass für Luther, wie er es in De conciliis et ecclesia (1539) darstellt, Gottes Wirklichkeit in Christus hybrid ist. Es kann nicht eine Essenz oder eine Identität isoliert, noch viel weniger manipuliert werden. Hybrid ist was sich zwischen zwei Identitäten bewegt. Es ist weder die eine noch die andere und beide gleichzeitig bzw. mehr als beide. Die post-koloniale Literatur stellt Hybridität als bedeutendstes Kennzeichen der subalternen Völker hin. Das ist also der Christus: Gott, ein verurteilter, am Kreuze hingerichteter Verbrecher. ... er bewegt sich zwischen Himmel und Hölle, während er unter den Sterblichen weilt.

Die Planung muss im Einzelnen vor Ort ausgearbeitet werden.

Schlussbemerkungen

Ich mache mir keine Illusionen. Wenn wir das 500. Jubiläum der Reformation feiern, wird sich vielleicht die Mehrheit der Lutheraner auf der südlichen Halbkugel befinden. Doch der theologischen Führungsposition wohnt eine gewisse Trägheit inne, die es mit sich bringt, dass eine viel längere Zeit vergehen wird, bis das südliche Verständnis von Luther respektiert wird und zur Geltung kommt. Dieses Verständnis wird weder inhaltlich noch methodisch dem gleichen, was heute in der nordatlantischen Welt getan wird. Es wird ein Hybrides sein, das sich zwischen dem reichhaltigen Ergebnis der Lutherforschung in Europa und den USA und seiner Umgestaltung für neue Kontexte bewegen wird, ohne Hemmungen, Luthers Mantel anzuziehen, und zwar über unsere eigene Haut. Ein deutscher Philosoph aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, der sich für einen guten Lutheraner hielt, nämlich Georg Wilhelm Friedrich Hegel, behauptete in einem seiner Axiome: Wenn das Absolute ausgleitet und aus dem Boden, wo es herum spaziert, ins Wasser fällt, so wird es ein Fisch, ein Organisches, Lebendiges. HW 2: 543 . Und wir paraphrasieren: Wenn Luther in Brasilien fällt, wird er ein Brasilianer. Und dies gilt auch für ganz Lateinamerika, Afrika und Asien.

Übersetzung: Walter O. Schlupp, Juni 2011
 


Autor(a): Vitor Westhelle
Âmbito: IECLB
ID: 32645
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