Johannes 19.16ss - Johannespassion

31/03/2011

Predigt über Johannes 19, 16 ff
anlässlich der Aufführung von H. Schütz, Johannespassion
Gehalten am 27. März 2011 (Okuli) in Augsburg, St.Ulrich
Augsburger Regionalbischof P. Michael Grabow
Evangelisch-Luterischen Kirche in Bayern

Liebe Gemeinde,

heute schon eine Karfreitagspredigt zu halten - vier Wochen vor diesem Tag? heute schon eine Karfreitagspredigt zu halten - geht das überhaupt?

Vielleicht denken Sie sich ja: das gehört doch gar nicht in diesen Sonntag. Damit wird etwas vorweggenommen, das nicht in die Mitte, sondern ans Ende der Passionszeit gehört. Und das ist schade, weil damit der Höhepunkt dieser Zeit vorweggenommen wird.

Andererseits, liebe Gemeinde: ist nicht immer Passion? Ist nicht immer Passion auf dieser unheiligen, dieser so gewalttätigen und gleichzeitig geschundenen Welt? Stirbt Jesus nicht jeden Tag aufs Neue für diese unheilige, so gewalttätige und geschundene Welt? Stirbt Jesus nicht jeden Tag aufs Neue in jedem ge-schlagenen, geschundenen, gefolterten und getöteten Menschen auf dieser Erde?

Ich denke an Menschen, die nicht nur allein, sondern einsam sind – und keiner kümmert sich um sie. Ich denke an Menschen, die mit ihrem Leben nicht zurechtkommen und sich mit Tabletten, Alkohol und Drogen zudröhnen. Ich denke an Menschen, die am Leben verzweifeln und keinen Ausweg mehr sehen, als dieses Leben selbst zu beenden.

Ich denke auch an Menschen in anderen Ländern unserer Erde:

Ich war gerade für zwei Wochen zu Besuch in der lutherischen Kirche in Brasilien. Viele Eindrücke habe ich mitgebracht – und manches hat mich sehr erschüttert und nachdenklich gemacht. Ich denke z.B. an die unglaubliche Gewalt in der brasilianischen Gesellschaft, von der uns Kinder in Recife erzählt haben: der Bruder, der Vater, der Onkel erschossen auf offener Straße in einer Favela, einer der Armensiedlungen. 2.500 Tote nur in Recife, jedes Jahr.

Ich denke an die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen arm und reich in vielen Ländern unserer Erde. Die einen hungern, die anderen verbarrikadieren sich in ihren Villen mit Stacheldraht und Alarmanlagen – nur wenige Kilometer entfernt. Auch das haben wir auf unserer Reise gesehen.

Ich denke an die immer noch alltägliche Gewalt gegen Frauen auf der ganzen Welt. Mit diesem Thema hat sich der Brasilientag von MissionEinewelt beschäftigt, der gestern hier in Augsburg stattfand. Und auch wir haben auf unserer Reise mit Frauen gesprochen, die von eigenen Gewalterfahrungen gesprochen haben – von ihren Männern geschlagen, unterdrückt, selbst vergewaltigt. Und diese Gewalt gegen Frauen gibt es ja nicht nur in Brasilien, sondern auch bei uns.

„Die Passion ist weiblich“ – so lautete der Titel einer Ausstellung, die in vielen bayerischen Städten zu sehen war. „Was Ihr den geringsten unter meinen Brüdern getan habt, habt Ihr mir getan“ – hat Jesus gesagt. Und ich denke, es ist legitim, seiner Rede von den Brüdern auch die Schwestern an die Seite zu stellen. Die Passion ist weiblich – Frauen müssen diese Erfahrung auch heute noch immer wieder machen, körperlich oder psychisch erniedrigt und gequält zu werden.

Täglich hören wir von Hunger, Krankheit, Krieg und Folter. Aber die Toten bleiben für uns fern und anonym; wir kennen ihre Namen nicht, haben ihr Gesicht nie gesehen.

Immer ist Passion auf dieser unheiligen, dieser so gewalttätigen und gleichzeitig geschundenen Welt – jeden Tag. Jesus stirbt jeden Tag aufs Neue für diese unheilige, so gewalttätige und geschundene Welt. Jesus stirbt jeden Tag aufs Neue in jedem geschlagenen, geschundenen, gefolterten und getöteten Menschen auf dieser Erde.

Jeden Tag ist Passion. Man muss deshalb genau hinhören auf das, was da am Kreuz geschieht – was da wirklich geschieht. Dass da ein Mensch, dass da Jesus elendiglich stirbt – und dabei nicht mit seinem Gott bricht und auch nicht an den Menschen verzweifelt, die unter seinem Kreuz stehen und seinen Todeskampf beobachten.

Man muss genau hinhören auf das, was da geschieht. So genau, wie unzählige, die sich die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu erzählt haben – viele Jahrhunderte lang, über viele Generationen hinweg.

So genau, wie die, die seine letzten Worte am Kreuz aufgehoben und sorgsam weitergegeben haben wie kostbare Schätze.

So genau, wie die, die sie meditiert und ausgelegt haben als Theologen und Pfarrer für die Menschen ihrer jeweiligen Zeit.

So genau wie die, die versucht haben, ihnen als Musiker Stimme zu geben in Liedern und Oratorien. So genau wie Heinrich Schütz, der all die Tiefe, den Schmerz und den Trost des Leidens und Sterbens Jesu in seine Musik hineinlegt. Mit dieser so eindrücklichen Musik hilft er uns, diesem Leiden und Sterben nachzuspüren und es für uns selbst ein wenig besser zu verstehen.

Schütz war der erste, der in seine Vertonung der Passionsgeschichte dramatische Elemente einfügte durch eindringlich geschilderte Situationsbeschreibungen und eine Vielzahl an musikalisch- rhetorischen Figuren.

Kein anderer Komponist hat die Passionen nach Matthäus, Lukas und Johannes in ihrer Gesamtheit und jeweiligen Tradition kompositorisch so reflektiert und mit der ganzen Kraft seiner Kunst durchdrungen wie Schütz. Und wie kein anderer Komponist seiner Zeit hat er sich bei der Vertonung auf den reinen Bibeltext konzentriert.

Schütz komponierte die Johannes-Passion in den Jahren 1665 und 1666 für gemischten Chor a capella und Einzel-Sänger, die die solistischen Partien (Evangelist, Christusworte, Pilatus, Petrus, Judas, Diener) übernehmen. Gerade die Beschränkung der musikalischen Mittel auf eine am Psalmton orientierte Melodieführung ohne jegliche Instrumental-Begleitung lässt die Sprache und deren Intention sehr eindringlich und unmittelbar wirken.

Der Chor rahmt zum einen das Passionsgeschehen mit Introitus und Schlusschor ein und gestaltet darüber hinaus die Reaktionen und Kommentare der Jünger, die Schreie der aufgebrachten Volksmenge, die Intrigen der Hohenpriester und die Befehle der Kriegsknechte. Seine Musik setzt dabei die jeweiligen Emotionen und Interessen der einzelnen Gruppen so gekonnt um, dass wir sie geradezu hautnah spüren können.

Deshalb spricht uns auch heute diese beeindruckende Johannespassion von Heinrich Schütz noch unmittelbar an. Sie hilft uns, Jesu Leiden und Sterben mit- und nachzuempfinden. Denn sein Leiden und Sterben gilt uns – jedem und jeder einzelnen von uns.

Und so hören wir Jesu Passion, sehen sein Kreuz und erfahren voller Staunen: „Schau, da ist Dein Gott! Ohnmächtig ans Holz genagelt und doch der, der mit seinem Leid auch Dein Leid trägt.“

Diese Vorstellung fällt manchen Menschen heute schwer, dass ein anderer, dass Gott selbst unser Leid trägt. Sie wollen selbst stark sein, sie wollen keine Schwäche zeigen, sie wollen mit ihrem Leben selbst fertig werden, ohne das Mitleid anderer, auch ohne das Mitleiden Gottes.

Für andere ist ein Gott, der menschliches Leid nicht nur aus der Distanz heraus betrachtet, sondern der dieses Leid am eigenen Leib erfahren hat, ein tiefer und echter Trost.

Wenn ich das für mich bedenke, kommt Gott mir plötzlich ganz nah. Er versteht, was in mir vor sich geht, wenn ich Leid empfinde. Er versteht meine Schwäche. Er versteht meine Verzweiflung. Er versteht meine Not.

Gott wird so zum Leidensgenossen der Menschen. Er geht ihren Weg mit und teilt ihr Schicksal, teilt sogar ihren Tod.

Dieser Gott ist ein solidarischer Gott. Er ist so solidarisch, dass er sich selbst für den schimpflichsten Tod nicht zu schade ist. Er ist so solidarisch, dass er sich zwischen zwei Verbrechern hinrichten lässt und einem von ihnen sogar noch das Himmelreich verspricht.

Diese Nähe, dieses Mitleiden, diese Solidarität haben Menschen über nun schon bald 2000 Jahre erfahren und erlebt. Und sie haben daraus nicht nur Trost und Stärkung für sich selbst geschöpft. Sie haben daraus auch gelernt, selbst auf-merksam für das Leid anderer zu werden und mit den Leidenden, den Schwa-chen, den Verfolgten solidarisch zu werden.

Das tun Christen hier bei uns in Augsburg: manche ganz im Stillen, andere im Engagement eines Krankenhausbesuchsdienstes, im Arbeitskreis Brasilien, in einer Asylgruppe oder bei der Telefonseelsorge. Und man könnte hier natürlich noch vieles andere aufzählen.

Das tun Christen auf der ganzen Welt, wie z. B. in Brasilien. Ich war tief beeindruckt von dem jungen Pfarrerehepaar in Crato, die sich nicht in den sicheren Kirchenraum zurückgezogen haben, sondern solidarisch mitten in einer Favela ein Haus gemietet haben, um eine Arbeit mit den Kindern und den Müttern zu beginnen. Die junge Pfarrfrau arbeitet mit ansteckender Begeisterung als Missionarin mit den Kindern, um sie von der Straße und weg von den Drogen und der Gewalt zu holen. Sie bietet gemeinsam mit anderen Gemeindegliedern Unterricht und Ausbildung an, um den Kindern eine Zukunft zu bieten. Und sie kümmert sich um die Kinder, die allein sind, weil man sie auf die Straße geschickt hat oder weil die Eltern der alltäglichen Gewalt zum Opfer gefallen sind.

Man spürt es dem jungen Pfarrerehepaar an, dass ihr Einsatz für sie Passion ist: eine Passion im doppelten Wortsinn: als Mitleiden mit den Menschen und als Leidenschaft für die Menschen.

Selbst solidarisch werden im Namen eines solidarischen Gottes. Selbst mit anderen das Leben und das Leid zu teilen im Namen eines Gottes, der selbst unser Leben und Leiden geteilt hat. Das ist alltägliche Passion – nicht nur am Karfreitag.

Am Ende der Johannespassion sagt Jesus: Es ist vollbracht.

Es ist vollbracht. Für jeden Tag. Für jeden Menschen. Es ist vollbracht. Für dich und mich. Denn das ist uns versprochen, So, wie es der Seher Johannes beschreibt: (Offenbarung 21, 1 – 4)

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.

Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.

Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;

Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Gottes Hütte bei den Menschen. Gott wohnt bei uns – Tür an Tür, Wand an Wand. Was für ein Trost, was für eine Perspektive, was für eine Hoffnung.

Amen


Autor(a): Portal Luteranos - IECLB
Âmbito: IECLB
Natureza do Texto: Pregação/meditação
Perfil do Texto: Prédica
ID: 8908
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