5. Tagung der 11. Synode der EKD
Timmendorfer Strand, 1. bis 7. November 2012
Das Reformationsjubiläum – ein Ereignis von Weltrang – Schlaglichter auf 2017
Pastor Dr. Walter Altmann, Vorsitzender des ÖRK-Zentralausschusses
05. November 2012
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender, sehr geehrte Frau Präses, hohe Synode, verehrte Gäste, liebe Schwestern und Brüder!
Es gibt in der Geschichte bestimmte Ereignisse, die aufgrund ihrer Resonanz und Folgewirkungen bei Weitem über die anfängliche Absicht hinausgehen, und das sowohl in geografischer als auch in sozialer und politischer Hinsicht. Schon der Reformator Martin Luther war selbst höchst erstaunt über die rapide Verbreitung und den starken Widerhall seiner 95 Thesen, zumal sie für eine akademische Auseinandersetzung gedacht waren. Bedeutungsvolle Ereignisse sprengen aber auch die Begrenzungen ihrer eigenen Zeit und werden zu permanenten Orientierungsmarken. Sie mögen in einem ganz spezifischen Bezugsrahmen verankert sein, wie z. B. der Ablasshandel, und gewinnen doch, wie wir heute sagen würden, eine globale Dimension und haben die Fähigkeit, sich jeweils neu in den verschiedensten Formen und den verschiedensten Kontexten niederzuschlagen.
Ich danke für die mir erteilte Einladung, im Namen des Ökumenischen Rates der Kirchen ein Statement über die globale Auswirkung der Reformation von 1517 zu bringen. Das auf uns zukommende Datum der 500 Jahre der Reformation ist von höchster Relevanz für die Gemeinschaft der Kirchen, die der Ökumenische Rat darstellt, und darüber hinaus für die gesamte Weltchristenheit. Das Bild Luthers vom Anschlag der 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg, wie auch immer es der historischen Wirklichkeit entsprechen mag, ist ein kraftvolles Symbol für ein Geschehnis und einen ganzen historischen Prozess der theologischen Wiederentdeckung der herrlichen Gnade Gottes, die im Glauben für unsere Rettung zu empfangen ist (solus Christus, sola gratia, sola fide). Es war ein wahrhaft befreiendes Ereignis, und die wiedergefundene Botschaft ist es noch heute.
Es geschah vor einigen Jahren in Chile, mit einer traditionell mehrheitlich katholischen Bevölkerung. Die evangelischen Gemeinden – wenige der historischen protestantischen Kirchen, viele der neuen Pfingstkirchen – beantragten einen nationalen Feiertag, der für die nicht-katholischen Gemeinden kennzeichnend wäre. Es war für sie nicht schwer, zu einem Konsens zu kommen und den 31. Oktober als das zu begehende Datum zu identifizieren. Bei der Schlussabstimmung im chilenischen Senat waren die Stuhlreihen voll besetzt von Gliedern dieser Kirchen. Als das Resultat der Abstimmung mit der Annahme des evangelischen Feiertags bekannt gegeben wurde, erhoben sich diese Beiwohner spontan von ihren Plätzen und sangen unisono „Ein feste Burg ist unser Gott.“
Aus guten Gründen geschieht natürlich das Gedenken und das Feiern der 500 Jahre der Reformation auf besonders intensive Weise in Deutschland und hier vor allem durch Initiativen im Bereich der EKD im Countdown zum Reformationsjubiläum 2017. Die weltweite christliche Gemeinde begleitet die vielseitigen Programme mit Interesse und auch in geistlicher Gemeinschaft. – Zum Beispiel: vor knapp zwei Monaten habe ich an einem Kirchentag in meiner Kirche, der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien-IECLB teilgenommen. Die Veranstaltung fand in einer Sporthalle statt. Es gab keinen Turm mit Glocken in der Nähe. Aber in Zeiten so vieler moderner Kommunikationsmittel wird die Verlegenheit zur Gelegenheit. So konnten wir am Anfang und am Schluss des schönen Gottesdienstes die Glocken der Stadtkirche von Wittenberg hören. Und während des Gottesdienstes wurde eine Kollekte für die Restaurierung dieser Kirche erhoben, und zwar im Rahmen einer Kampagne der Obra Gustavo Adolfo, des brasilianischen Gustav-Adolf-Werkes. Gewiss handelt es sich nicht um außerordentliche Summen, aber die Gaben bezeugen die geistliche Verbundenheit unserer Kirche mit der in Wittenberg ausgelösten Reformation (und Luthergärten – inspiriert durch den Luthergarten in Wittenberg – gibt es inzwischen mehrere in Brasilien.)
Wie soll man aber auf die geistlichen und diakonischen Herausforderungen, die die globale Realität uns heute stellt, antworten im Gehorsam auf das evangelische Erbe der 500 Jahre Reformation?
Es geht um das Bemühen um die Einheit – bei zunehmender religiöser Zersplitterung und Wettbewerb, gleich einem globalen Markt; das Festhalten an der evangelischen Freiheit – inmitten von Systemen und Mechanismen der Exklusion; den Dienst am notleidenden Nächsten – als Antwort und Dank für die freie Gabe Gottes; es geht um den vollen Respekt vor der Würde eines jeden nach Gottes Bild geschaffenen Menschen – inmitten von Gewalttätigkeiten und Zwängen, die so viele Opfer fordern; das Lob Gottes – man denke an „Reformation und Musik“ – statt der Anbetung des Götzen Mammon im persönlichen Leben und in den wirtschaftlichen Strukturen der globalisierten Welt; die Nachfolge auf den Spuren eines Herrn, der gekreuzigt wurde – trotz so vieler Versprechungen von „Segen“ und leichter Prosperität; die Bewahrung der guten Schöpfung Gottes, in der es genug gibt, dass alle würdig leben können – wo es aber keinen Raum mehr geben sollte für die Konzentration der Güter und die persönliche Habgier.
An das Erbe der Reformation erinnern heißt, mit dieser Sache verpflichtet zu sein. Und sie ist nicht nur ein Anliegen der Kirchen der Reformation, sondern eine gemeinsame Sache von allen in der ökumenischen Bewegung engagierten Kirchen. Der Lutherische Weltbund bemüht sich, diese ökumenische und globale Dimension des Gedenkens der 500 Jahre Reformation hervorzuheben. Was den Ökumenischen Rat der Kirchen angeht, hat der Generalsekretär, Olav Fykse Tveit, in seinem Bericht für den Zentralausschuss, auf der kürzlich in Kolympari, Insel Kreta/Griechenland, stattgefundenen Tagung, diesbezüglich gesagt: „In jedem Fall sollten wir die Erneuerung und die Entdeckung des Evangeliums gemeinsam feiern. Wir sollten feiern, dass die ökumenische Bewegung und die ökumenischen Dialoge uns geholfen haben, die Entwicklungen als Schatz für uns alle zu verstehen, unabhängig davon, welcher kirchlichen Tradition wir angehören oder welche kirchliche Identität wir haben.“ Fykse Tveit ermahnte ebenso dazu, dass wir das Datum in Demut begehen angesichts der vielen Spaltungen unter uns und als Erneuerung unserer Verpflichtung mit dem ökumenischen Weg zur Einheit, die Gottes Gabe ist für uns und Obligation für unser Kirchesein im Dienst Gottes und der Menschheit.
Eine Erneuerung des Lebens und im Dienst am Leben beinhaltet auch eine konstante Erneuerung der Kirchen selbst. Der ÖRK prüft gegenwärtig die Möglichkeit, im Jahr 2017, gerade unter dem Thema „Erneuerung“, eine neue Konferenz für Glauben und Kirchenverfassung durchzuführen. Das wäre die sechste in der Geschichte und die vierte seit 1948, als der ÖRK gegründet wurde. „Erneuerung“ ist eine praktische Notwendigkeit, eine Erfahrung und eine Realität. „Erneuerung“ ist auch ein fruchtbarer Boden für die theologische Reflexion, tief vinkuliert mit der Mission und der Ekklesiologie. Eine multilaterale und globale theologische Reflexion wäre ein Geschenk für die Kirchen. In diesem Sinne können die 500 Jahre der Reformation Anlass sein für einen neuen wesentlichen Impuls für die ganze ökumenische Bewegung.
Ich schließe diese Verlautbarung mit einer symbolischen Geste der geistlichen Gemeinschaft, die uns verbindet, und ich tue es in Erinnerung an die grundlegende Bedeutung, die die Bibel für Luther und für die Bewegung der Reformation hatte. Ja, „Am Anfang war das Wort“. Luther wollte, dass die Heilige Schrift allen zugänglich würde. Mit einer genialen Übersetzung legte er die Bibel in die Hand des Volkes, damit es sich nähre von der Botschaft der Freiheit und der Erlösung – sola Scriptura. Im Lauf der Geschichte und auch in der Gegenwart war die Rückkehr zur Bibel immer wieder eine Quelle für die Erneuerung der Kirchen und Inspiration für den ökumenischen Weg. Unter den Initiativen im Blick auf 2017 hat die Brasilianische Bibelgesellschaft in Kooperation mit den lutherischen Kirchen des Landes eine Sonderausgabe der Bibel erarbeitet und vorwenigen Tagen herausgebracht, und zwar mit ausgewählten Auslegungen Luthers. Es ist ein kräftiges Zeugnis davon, dass das Wort der Schrift zu Luthers Zeit neues Leben gewonnen hat und zu allen Zeiten und an allen Orten immer wieder zur lebendigen Stimme des Evangeliums wird. Als Zeichen dieser geistlichen Gemeinschaft darf ich der hochverehrten Frau Bundeskanzlerin und der Frau Präses dieser hohen Synode ein Exemplar der Sonderausgabe der brasilianischen Bibel überreichen. Vielen Dank.