Seit 500 Jahren sind europäischer Machtwille und europäische Kultur in die Jahrtausende alte Geschichte des Landes eingetreten, das später „Brasilien“ genannt wurde. Aus diesem Zusammentreffen hat sich eine eigenständige brasilianische Gesellschaft entwickelt. Zum Jahrestag der Entdeckung werden im Land gegenwärtig große Jubiläumsfeiern vorbereitet. In vielen Städten ist das Ereignis symbolisch präsent durch eine große Uhr, die im Count-down die Tage bis zu dem berühmten 22. April anzeigt. Die Feiern stellen die Erfolge der europäischen Einwanderung in den Mittelpunkt: entwickelte Landwirtschaft, fortschrittliche Industrie, moderne Technologie in bestimmten Regionen des Landes. Dieses Land von kontinentalen Ausmaßen ist mit einer fantastischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren, mit verschiedenartigen Landschaften und Klimazonen gesegnet. Es ist reich an Mineralien und Bodenschätzen.
Trotz dieser Gegebenheiten und Erfolge haben viele Menschen in Brasilien keinen Grund zu ungeteilter Freude. Die brasilianische Gesellschaft ist gekennzeichnet von den Gegensätzen zwischen Reich und Arm, Besitzenden und Landlosen, Menschen mit grenzenlosen Möglichkeiten und Menschen in Ohnmacht. Die Mehrheit der Bevölkerung wird auch in der Zukunft mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, weil das Land durch Auslandsschulden in Höhe von 330 Milliarden Dollar belastet ist, die infolge negativer Handelsbilanzen und Ausfuhrhindernissen durch die Industrieländer noch zu wachsen drohen. Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich zusehends.
Auch gibt es Bevölkerungsgruppen, die seit Jahrhunderten von den Erfolgen der brasilianischen Entwicklung ausgeschlossen sind. Die Konquistadoren ignorierten die Rechte und die Würde der Indio-Voelker, beuteten sie aus, missbrauchten sie als Sklaven, infizierten sie mit Krankheiten oder ermordeten sie einfach in vielen Fällen. Eine Bevölkerung, die einmal circa 5 Millionen Angehörige hatte, zählt heute noch etwa 330 Tausend Menschen, ein geringer Bruchteil der heutigen Bevölkerung des Landes.
Ein anderes tragisches Kapitel der brasilianischen Geschichte betrifft die Versklavung von großen Teilen der schwarzen Bevölkerung Afrikas. 300 Jahre lang war diese Menschenjagd ein grausiges rentables Geschäft. Danach, im 19. Jahrhundert, lockte die Hoffnung auf neue Lebensgrundlagen die Angehörigen verarmter Volksgruppen aus Europa nach Brasilien. Konflikte blieben den Einwanderern nicht erspart, wenn ihnen Land zugewiesen wurde, wo Indios wohnten. Manche waren auch ein willkommener Ersatz für die Sklaven. So haben Indios, Schwarze, arme Einwanderer und deren Nachkommen mit ihrem Schweiß und ihrem Blut brasilianische Geschichte geschrieben.
Unter diesem Blickwinkel bekommen die 500 Jahre eine ganz andere Bedeutung. Wie konnten Nationen, die sich christlich nannten, sich so gegen Gott und die Menschen versündigen? Wie konnten Kirchen, die sich zu Jesus Christus bekennen, zu brutaler Versklavung, Menschentötung und Völkerausrottung schweigen oder sich sogar daran beteiligen?
Aus der Sicht des christlichen Glaubens an die Liebe Gottes sind wir alle zusammen - Kirchen und Gesellschaften in Brasilien und Deutschland - zur Buße aufgerufen. Aufdeckung der Schuld und Reue, Bekenntnis der Sünden und Bitte um Vergebung können uns helfen, mit dieser historischen Schuld umzugehen. Sie können uns befreien für eine angemessene, von begründeter Hoffnung getragene Feier. Nur auf Grund von Einsicht und Buße kann eine neue Gemeinschaft entstehen. Sie ermöglicht einen neuen Anfang für den Aufbau einer gerechteren und verantwortlicheren Gesellschaft, in der man die verschiedenen Volksstämme mit ihren besonderen Kulturen, Traditionen und Hoffnungen respektiert.
In diesem Sinn wollen wir uns die Hände reichen und mit dem Jubiläum eine neue Geschichte beginnen - eine Geschichte der Solidarität, in der alle Menschen in ihrer Würde anerkannt werden und Aussicht auf Frieden in einem „neuen Jahrtausend ohne Ausgrenzung“ haben - um das Thema der brasilianischen Ökumenischen Kampagne der Geschwisterlichkeit 2000 aufzunehmen. Unserem Glauben gemäss wird diese Vision letzten Endes durch den Herrn der Kirche selbst und durch die Kraft des Heiligen Geistes verwirklicht werden. Er helfe uns, dass wir mit Christus „in einem neuen Leben wandeln! (Römer 6,4) Er wird auf diesem Weg mit uns gehen.
Porto Alegre, im März 2000 München, im März 2000
Für den Rat der IECLB Für den Landeskirchenrat der ELKB
Huberto Kirchheim, Kirchenpräsident Dr. Johannes Friedrich, Landesbischof